Nach dem biblischen Gebot ist jedem Menschen bewusst, dass sein irdisches Leben eines Tages ein Ende haben wird. Somit ist der Tod die Unterbrechung des menschlichen Lebens, der gegenüber man nicht gleichgültig bleiben kann. Das ist der Grund, warum der Mensch sich gezwungen fühlt, den Sinn des Lebens und die Fragen seiner Existenz tiefgreifender zu erkennen, als das Phänomen der Liebe und der Geburt zu bedenken geben. Vor allem wird man mit dem Tod durch den Tod eines anderen konfrontiert, obwohl der eigene Tod der schrecklichste und unvermeidlichste ist.
Der Beerdigungsritus ist eine bestimmte Verhaltensweise gegenüber der Unterbrechung des Lebens und der Bewältigung des Sterbens, die in allen Religionen und Kulturen allgemein erkennbar ist. Das Begräbnis wird aber nicht als ein bloßer Abschied vom Leichnam verstanden. Beisetzungen Verstorbener ohne Ritual wurden immer als eine Schande empfunden. Um sich gegenüber dem Leichnam ehrenvoll zu verhalten, haben verschiedene Kulturen und Traditionen Begräbnisrituale rund um die Beerdigung entwickelt, die von Generation zu Generation sorgfältig überliefert werden.
Zu unseren Lebensstationen gehören auch die Geburt und die Heirat, die ebenfalls bestimmten Rituale haben. Jedoch wird der Beerdigungsritus von uns nicht als eine Lebensstation wahrgenommen. Er ist mehr eine Äußerung der Lebenden gegenüber den Verstorbenen, worin die Vorstellungen über Tod und Leben ihren Platz einnehmen. Der Begräbnisritus ist mit zwei prinzipiellen Vorstellungen verbunden: einerseits sind es unsere Gefühle von Liebe und Achtung gegenüber dem Verstorbenen und besonders der Schmerz als Ergebnis unserer Bekanntschaft mit dem Verstorbenen; andererseits sind es unsere Gefühle gegenüber dem Tod als einer unvermeidlichen Grausamkeit, einer groben, gegen das Leben gerichteten Kraft.
Die Antwort des unbegreiflichen Geheimnisses des Todes finden wir im Christentum durch den Glauben an Christi Heilswerk und seine Auferstehung. Die Auferstehungshoffnung des Christentums, nach der der Tod nicht die letzte Station ist, wird im Glauben an die Überwindung des Todes durch Christus geknüpft. Durch Christus wird der Mensch des Todes enthoben. Für den Christen hat die Herrschaft des Todes für die Sterblichen mit dem Erscheinen Christi in dieser Welt ihr Ende gefunden. Seitdem hat sich alles verändert. Alles, was bis dahin schrecklich war, wurde zum Hl. Mysterium; das irdische Ende des Christen wurde zum Anteil an Tod und Auferstehung Christi. Der Tod wird nicht mehr als eine machtlose Unterbrechung des Lebens verstanden, sondern als Auffahrt und Wiederkunft in der Präsenz Gottes in ein neues und verheißungsvolles Leben. Also weswegen Trübsal und Furcht? Demzufolge klagt der Christ nicht über einen Verstorbenen, wie die Heiden es tun, sondern er geleitet ihn mit Lobpreisungen zum Grab, denn auf den Verstorbenen wartet dort die volle Erneuerung durch die Gnade Gottes. In diesem Sinne setzte sich die frühchristliche Kirche mit den heidnischen Totenwehklagen auseinander. Das ist auch der Grund, warum die Christen der Frühkirche ihren Verstorbenen weiße Kleider anlegten, ihre Stirn mit Triumphkronen schmückten und sie in feierlichen Leichenprozessionen mit zahllosen Leuchtern und Lobgesängen zum Grab geleiteten. Die weiße Farbe stand als Symbol für Leben und Freude im frühchristlichen Begräbnisritus im Gegensatz zu den heidnischen Trauerfarben Schwarz und Rot. Es herrschte die Vorstellung, dass die Seele des Verstorbenen auf dem Weg des ewigen Lebens weiße Kleidung tragen würde. Die weiße Farbe symbolisierte auch die endzeitliche Trauung, die die Seele durch den Tod mit Christus verbindet.
In der christlichen Mystik der Farben stellt sich die Hingabe der Seele in der Taufe auch in einer weiteren Dimension dar. Der durch das Taufbad neu geheiligte Christ zieht weiße Kleider an als Neugeborener und als der, der den Hl. Geist angenommen hat. Wie der einst im Täufling Platz genommene Hl. Geist Christus auferweckt hat, so ruft jetzt derselbe Hl. Geist den Verstorbenen zum Leben. Später zieht sich die Bestätigung des Taufglaubens wie ein roter Faden durch den armenischen Begräbnisritus – als Garant für die Auferstehung.
Es ist erkennbar, dass seit frühchristlichen Zeiten in Begräbnisritualen bestimmte Psalme rezitiert wurden und parallel dazu auch Fürbitten-Gebete mehr an Bedeutung gewannen. Die Kirche glaubte, dass die vom Körper getrennte Seele mit diesen Gebeten Gott überliefert würde.
So werden die wichtigsten Fundamente der Entstehung des christlichen Begräbnisritus gelegt, wodurch sich der Ritus mehr und mehr vom Erbe des Totenkultes aus antiken Zeiten absetzt, und der Auferstehungsglaube betont wurde.
Aus der Frühphase der christlichen Begräbnisse sind fragmentarische Inschriften auf Grabsteinen, sowie für Entschlafene verfasste Gebete bekannt, wie es etwa die Gebete (Euchologien) von Serapion von Thmuis und die apostolischen Konstitutionen bezeugen. Ungefähr seit dem 4. Jh. wird das Abfassen von Gebeten und die freie Rede neben dem frühchristlichen Brauch im Ritus üblich. Allgemein wird das 4. bis 8. Jh. als Entstehungsphase des kirchlichen Ritus aufgefasst. In dieser Zeit existierten noch keine festgelegten Handschriften. Die Riten und Rituale befanden sich also noch in ihrer Entstehungsphase. Die Priester hatten die Möglichkeit den Ritus nach eigenem Belieben frei zu gestalten
Das älteste Zeugnis eines Begräbnisritus finden wir Ende des 6. Jh. bei Dionysius von Areopagita in seinem Werk „De ecclesiastica hierarchia“, wo der Ritus der Kirche Antiochiens geschildert wird. In seinem der christlichen Geistlichkeit gewidmeten Werk erklärt Areopagita den Ritus der Kirche als ein „Mysterium“, das das höchste und übernatürliche Geheimnis widerspiegelt. Der Begräbnisritus als ein Übergang vom irdischen zum himmlischen Leben eines Christen legt das göttliche Geheimnis des Lebens im Jenseits aus. Obwohl der Begräbnisritus theologisch nicht als Sakrament definiert wird, beinhaltet er einen tiefgreifenden geistlichen Sinn. Deshalb stellt Areopagita den „Ritus der heiligen Entschlafenen“ den Sakramenten Taufe und Abendmahl gleich. Die Kirche stellt durch die Taufe die Nachfolge Christi im irdischen Leben eines jeden Christen sicher, und durch das Abendmahlssakrament bestärkt sie den Glauben der Christen. Dank des Begräbnisritus sieht die Kirche den Übergang des Gläubigen in die Welt des Jenseits und seine vollkommene Existenz bei Gott gesichert.
Der Tod des Menschen wird somit geweiht, und der Mensch nimmt als Nachfolger Christi an einem Heilmysterium teil. Bestärkt durch das Abendmahl Christi, steigt der Mensch mit Christus in den Abgrund herab, um mit Ihm gemeinsam siegreich von dort wieder aufzuerstehen.
Der christliche Glaube setzte sich mit den heidnischen, düsteren und trübsinnigen alten Todesvorstellungen dieser Art auseinander, die die vollkommenen Hoffnung zur Auferstehung versprachen. Der Glaube an die Vergänglichkeit des Todes bekam einen tröstenden Charakter, indem der Tote „Entschlafener“ und nicht „Verstorbener“ genannt wird. Die Ruhe des Grabes ist ein vorläufiger Schlaf bis zur Auferstehung, und der Verstorbene – „ein Entschlafener“. Statt des ewigen Todesschlafes ist das Grab eine vorläufige Ruhestätte des Leichnams. Die griechischsprachigen Christen haben diese Begrifflichkeit im Gegensatz zu den heidnischen Vorstellungen über das Grab und die ewigen wie vorläufigen Stätten der Toten theologisch differenziert. Nach der Christianisierung Armeniens wurde diese Differenzierung vom Griechischen in den armenischen Sprachgebrauch übernommen und und armenisiert.
Die armenische Kirche begann, solche christlichen Begrifflichkeiten für das Grab wie „Ruhestätte“, „Ruhe“ oder „Ruheort“ zu verwenden. Die Begriffe „Grab“ und „Gruft“ wurden für die heidnischen Gräber verwendet. Zum Beispiel die königlichen Grabmale in Ani wurden „Gräber“ genannt, – im Gegensatz zu den „Ruhestätten“ der Heiligen und Märtyrer. Das Grab als ursprüngliche Ruhestätte begegnet uns in den Zeugnissen des Evangeliums: der Tod eines Christen, der an die Auferstehung der Toten glaubt, ist nicht sein Ende. In diesem Sinne legt die armenische Kirche durch den Begräbnisritus den Glauben des ewigen Lebens aus.
Der täuschende Schein des Todes, der durch den rechten Glauben verschwindet, spiegelt sich in der Bezeichnung des Begräbnisritus, die die armenische Kirche ganz früh für ihren Begräbnisritus bestimmt hat, nämlich „Kanon der Bestattung aller Entschlafenen durch das Begräbnis in Christus“. In den alten Begräbnisgebeten finden wir nirgends die Bezeichnung „Verstorbener“. Die Handschriften berichten thematisch von der Ruhe der verschiedenen Seele und ihrer Reise in die Welt des Jenseits. Der Körper aber wird in der Erde bestattet, aus der er einst geschaffen wurde. Die Gebete beinhalten auch Fürbitten, dass Gott die Seele annehmen möge. Die Psalmen dienen der Sicherung des Glaubens an Gott und Seinen rettenden Schutz vor dem Tod im Jenseits. Das Elend und die Unvermeidlichkeit des Todes werden zwar nicht verschwiegen, im Ganzen jedoch wird die Wehklage zur hoffnungsvollen Lobpreisung.
Nach der Christianisierung Armeniens wurde das Begräbnisritual in die armenische Kirche aufgenommen und neu- bzw. umgestaltet. In der heidnischen Antike war die Bestattung zwar eine private Angelegenheit der Familienangehörigen, mit der Christianisierung jedoch wurde sie zu einer Angelegenheit der Kirche bzw. der Gemeinde, – und so entstand der Ritus.
In der armenischen Geschichtsschreibung vor dem 5. Jh. sind nur wenige fragmentarische Berichte erhalten, so dass eine genaue Rekonstruktion der Entstehungsstufen nicht vollziehbar ist. Es ist nur anzunehmen, dass die armenische Kirche verschiedene heidnische Elemente und Bräuche aufgenommen hat, die den christlichen Todesvorstellungen nicht widersprachen. Das Singen von Psalmen und Hymnen, das Fürbitten-Gebet für die Verstorbenen, das Segnen des Grabes, sowie der Jahrestag der Verstorbenen waren elementare Riten, die die Kirche aus den alt-herkömmlichen Bräuchen hinzufügte. Somit bildeten diese Riten im 4. Jh. die Basis für die spätere Entwicklung der Begräbnisrituale in Armenien. Sie gestalteten sich später deutlich als dreiteiliger Ritus. In der Frühphase wurde die Leichenprozession mehr betont. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren in den frühen Zeiten die Aufbahrung (Prothesis), die Nachtwache (Vigil) und die Liturgie keine Bestandteile des Begräbnisritus in der Kirche. Im Allgemeinen wurde das Gebet in der Kirche abgehalten. Erst im 10. Jh. müsste der kurze Halt vor der Kirche und die damit verbundene Anordnung der Gebete hinzugekommen sein, so dass dies in der Frühzeit nicht von Bedeutung war. Das Christentum erbte alte Bräuche. So wurde der Leichnam des Entschlafenen nicht zur Kirche getragen. Im alten Begräbnisbrauch war ein Prozessionszug mit dem Leichnam zum Tempel ausgeschlossen gewesen, denn die Anwesenheit eines Toten an geweihter Stätte galt als Befleckung. Somit lag das Hauptgewicht der christlichen, rituellen Gestaltungsmöglichkeiten auf der Trauerprozession, die zu den Grabstätten außerhalb der bewohnten Gegend zog und den wichtigsten Bestandteil in der Antike darstellte. Der Prozessionszug vom Sterbehaus zu den Grabstätten gewann bei den ersten armenischen Christen eine große Bedeutung. Zum zeichenhaften Vollzug einer „migratio ad Dominum“ wurde er symbolisch umgestaltet. Viel später wurde dieser Brauch durch Vigil be-reichert, indem der Verstorbene am Vorabend der Bestattung feierlich zur Nachtwache (Vigil) zur Kirche gebracht wurde. Von der heidnischen Funeralprozession übernahmen die Christen den reichlichen Gebrauch von Fackeln, Kerzen und Räucherwerk. Der lustrative und apotropäoische Zweck der Lichter der heidnischen Zeit wurde christlich umgedeutet als spirituelles Symbol der „Lux perpetua“ bzw. als Symbol für Christus, dem ewigen Licht der Welt. In Armenien wurden die alt-herkömmlichen Wehklagen während des Begräbnisses schon am Anfang der Christianisierung strikt verboten. Vor allem hatten Musiker, Tänzer, Mimen und verdingte Klageweiber, deren Teilnahme dem christlichen Glauben an die Auferstehung entgegenstand, in der christlichen Prozession keine Berechtigung. Solch Verhalten war von heidnischen Zeiten an im Volk als lebendige Spur eines Todeskultes verwurzelt. In zahlreichen kanonischen Beschlüssen der armenischen Kirche versuchte man jede Art der extremen Wehklagen zu verbieten und es galten sogar Strafen bis hin zur Anathema (Verdammung). Diese Verbote zielten auf die Abschaffung jeglicher Art des Ausdrucks von Wehklagen, die oft bis zum Selbstmord führten.
Mit der Abschaffung der Wehklagen über die Toten hat die Kirche dem Begräbnisritus einen tiefen Sinn verliehen. Nach dem christlichen Verständnis von der Auferstehung nach dem Tod bzw. im festen Glauben an ein Leben im Jenseits sollte das Begräbnis statt mit Wehklagen mit einer feierlichen Zufriedenheit und mit Psalmgesang einhergehen.
Der Katholikos Nerses der Große versuchte mit kirchenrechtlichen Maßnahmen dagegen einzuschreiten. Im Zuge seiner Sozialreformen erließ er auf der Synode zu Aschdischad Bestimmungen, die auf die christliche Durchdringung des Totenkultes zielten. Über seine Reform der Trauersitten unterrichtet uns Pawstos: „Wenn jemand überraschend starb, wagte es niemand, den Verstorbenen gegen die kanonische Ordnung der Kirche hoffnungslos zu beweinen. Auch trauerte niemand oder stellte Klagen um den Toten an, und niemand erhob ein Schreien über den Toten in den Tagen des Nerses, sondern man geleitete seine Toten auf ihrem Weg bloß unter Tränen, mit maßvollen Psalmen und Lobgesängen, sowie Lichtern und brennenden Kerzen “.
Trotz heftigen Kampfes hat die armenische Kirche die alt-herkömmlichen Bräuche nicht gänzlich entwurzeln können. In der christlichen Zeit hat die Klage im Sterbehaus und während des Begräbnisritus noch lange ihre Wirkung bewahrt. Psalmen haben im Laufe der Zeit den Platz der Wehklagen eingenommen. So haben sie bei der Gestaltung der kirchlichen Gebete eine gewichtige Rolle gespielt und mit den alt-herkömmlichen Bräuchen den Kanon des armenischen Begräbnisritus gebildet.
Parallel zum Psalmgesang pflegte man in Armenien einen anderen alten christlichen Brauch zu praktizieren, nämlich das Räucherwerk auf dem Friedhof. Nachdem der Verstorbene bestattet wurde und das Grab durch den Priester mit den Gebeten kreuzförmig gesegnet wurde, galt das Grab als versiegelt. Heute wird der Begräbnisritus noch mit dem Versiegeln des Grabes abgeschlossen. Nach den heute gebräuchlichen Formeln lautet die Segensformel, die der Priester zuerst an der westlichen Seite (am Kopfende), dann an der östlichen Seite (am Fußende) und danach in der Mitte des Grabes (am Brustkorb des Toten) spricht: „Es werden gesegnet und versiegelt bewahrt das Grab und die Gebeine des Dieners Gottes durch das Zeichen des heiligen Kreuzes und durch das Wort des heiligen Evangeliums und den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes… Es werden gesegnet und versiegelt bewahrt die Gruft und Gebeine… Es werden gesegnet und versiegelt bewahrt das Grabmal und Gebeine…“. Sodann spricht der Priester: „Unverrückbar sei das Siegel des Herrn auf dem Grab des Dieners Gottes bis zur Ankunft Christi, welcher kommen und neu machen wird mit Herrlichkeit, in der Herrlichkeit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen“.
Kulturgeschichtlich hat das Christentum die überragende Bedeutung des Siegelzeichens von der Spätantike übernommen. Das Versiegeln der Gräber zur Kennzeichnung des Eigentums und zur Sicherung gegenüber unbefugtem Eingriff Fremder war ein allgemein üblicher Brauch. Pilatus ließ das Grab Jesu versiegeln, um dem Raub des Leichnams vorzubeugen (vgl. Mt. 27,66). Die Ruhe des Toten nicht zu stören und den Toten als Besitz Gottes zu kennzeichnen, war auch der Sinn des Siegelabdrucks auf vielen frühchristlichen Gräbern. In übertragener Symbolik diente die Versiegelung dem Zweck, den Toten und damit die Umwelt vor dämonischen Mächten zu schützen.
Die Versiegelungssymbolik spielt im Taufritus (Gnunk – dt. Versiegelung) auch eine gewichtige Rolle. Das aus dem Wasser herausgenommene neugeborene Kind wird mit Myrrhenöl gesalbt: somit werde es „versiegelt“ zum Schutz vor bösen Mächten. Diese Vorstellung ist auch im ältesten Begräbnisritus vorhanden, den man in der ältesten, noch aus dem 10. Jh. erhaltenen Maschtotz-Begräbnisformel findet. Im „Versiegelungsgebet“ zum Schluss des Ritus betet der Priester vor dem neubestatteten Leichnam zu Gott und bittet um die Bewahrung der Ruhe des Verstorbenen mit geistlichen Siegeln bis zu seiner Auferstehung, indem er spricht: „Und nun, Herr, unser Gott, strecke deine beschützende Rechte aus und segne und versiegele den Ort seiner (des Verstorbenen) Ruhe, so dass seine Gebeine unter Wacht und in Obhut stehen wie kostbare Schätze vor deiner Gottheit, und kein sichtbarer und unsichtbarer Feind wage, sich darüber hinwegzusetzen“.
Am Tag nach der Beerdigung hieß es bei der Toten-Gedenkfeier im Gebet, das der Priester am frischen Grab sprach: „Beschütze, allumfassender und allmächtiger Herr, die Seele dieser mit Deinen Heiligen und denen, die Deinen Namen lieben. Und dieses Grab Deines Dieners bewahre versiegelt, der Du die Tiefen verschließt und mit Deiner allmächtigen Rechten versiegelst; die Himmel und die Himmel der Himmel und alle Elemente und die Erde stehen fest begründet durch Dein Wort. So sei auch unverrückbar das Siegel Deiner Herrschaft über seiner (des Toten) Wohnstätte und über dem Aufbewahrungsort Deines Dieners. Und kein unbefleckter und unreiner Dämon wage es, sich ihm zu nahen wie dem Körper und dem Geist der Heiden, welche nicht die heilige Geburt aus dem Taufbecken haben und das abschreckende und Ehrfurcht gebietende Siegel auf ihren Gräbern“.
Schon in der christlichen Frühzeit war in Armenien das Totengedenken am Jahrestag des Todes eines Verstorbenen fester Bestandteil des Totenkultes. An den Gräbern des Hl. Sahag und des Hl. Maschtotz fand alljährlich ein Gedenken statt. Gedenkfeiern wurden auch für Gregor den Erleuchter (Krikor Lusaworitsch), für den König Drtad (Tridates III.) und für die Märtyrinnen Hripsime und Kayane abgehalten. Die armenischen Christen hielten das Totengedenken ab, das allgemein große Bedeutung im Kult der alten christlichen Kirchen gehabt hat.
Das Gedenken des Jahrestages des Toten war in der Antike allgemein üblich. Auch die christliche Kirche hat diesen Brauch übernommen, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied. Die Kirche feierte jährlich nicht an dem irdischen Geburtstag des Toten, wie es im antiken Heidentum üblich war, sondern an dessen Todestag. Denn nach der christlichen Lehre galt der Tag des Todes als Tag der wahren Geburt im Gottesreich. Der Todestag wurde so zum Tag der Geburt bei Christus im neuen Leben.
Das Fürbitten-Gebet ist eng mit dem Totengedenken verbunden, das vom Katholikos Wrtanes im armenischen Ritus eingeführt wurde. Der Katholikos hat das Gebet erstmals für die im Perserkrieg gefallenen Armenier in der Messliturgie gesprochen. Die Synode von Schahabiwan im Jahre 447 bestätigte die Anamnese der Entschlafenen während der Messliturgie. Mantaguni bezeugte auch die Notwendigkeit des fürbittenden Totengebets. In den alten Handschriften der Begräbniskanones werden neben den Fürbitt-Gebeten auch die umfangreichen Gebete des Priesters bezeugt. Es ist leider nicht möglich eine umfassende Darstellung über die Art und den Sinn der Gebete aus den alten Berichten zu rekonstruieren. Nur im 10. Jh. betont der Katholikos Khosrow Andsewatzi in seinem Liturgiekommentar auch die Wichtigkeit der Totenfürbitte und die Hilfe, die allen, selbst den vor Christus dahingegangenen Toten durch das Messopfer zuteil wird.
Die Ehrerbietung den Vorfahren gegenüber, die im vorchristlichen armenischen Totenkult eine gewichtige Stellung hatte, wurde von der Kirche übernommen und in eine Tradition der Gedenktage für die Verstorbenen umgewandelt. An diesen Tagen hat man an den Gräbern ein Totenmahl abgehalten, zur Erquickung der Seele des Verstorbenen. Diesem Totenmahl entwuchs später der christliche Brauch des Madaghs-Opfermahls.
Die Wurzeln des Madaghs liegen schon in der vorchristlichen Zeit. Gregor der Erleuchter hat es bewusst mit dem christlichen Kanon verbunden. Obwohl die Griechen diesen Brauch lange Zeit als mit jüdischer Sitte verbunden verstanden, verteidigte Katholikos Nerses Schnorhali die Rechtgläubigkeit der armenischen Opferpraxis. Die Anfänge des armenischen Hokehatz (Seelenbrot) liegen im Abendbrot des altkirchlichen Agapemahls, das die ersten Christen am 3. Tag nach dem Abendmahl am Grab haben abhalten sollen. Damit waren auch die paganen (heidnischen) Sitten eng verbunden.
In der Antike hat man an bestimmten Tagen nach dem Tod und am Jahrestag an den Gräbern ein Totenmahl abgehalten, bei dem man sich den Verstorbenen als anwesend dachte. Mit dem Mahl war ein Opfer verbunden, das die verschiedene Seele erquicken sollte. Das heidnische Totenmahl wurzelte in der Vorstellung, dass der Verstorbene in der Nähe des Grabes ein materielles und dem irdischen ähnliches schattenhaftes Leben weiterführe. Unter hellenistischem Einfluss wandelte sich diese Vorstellung in eine Pflege des Andenkens der Toten, wodurch sich unter dem Aspekt der Gemeinschaft Lebende und Tote miteinander verbanden. Hieran schloss sich die für das Christentum eminent wichtige Idee der Teilhabe von Lebenden und Toten an. Dieses Phänomen erleichterte den Übergang des Totenmahls in den christlichen Ritus. Durch die Einführung des (eucharistischen) Abendmahls und durch die Umdeutung des Totenmahls zu einer Agape bekam die heidnische Sitte vollkommene christliche Legitimation.
Das von den vorchristlichen Sitten herkommende Opfermahl (Madagh) wurde in der armenischen Kirche zu einer Agape umgedeutet. In einer Homilie des Katholikos Mantaguni wurde die christliche Mahnung laut, dass man zum Opfermahl die Armen, Kranken, Fremden, Waisen und Witwen einladen soll. Der Sinn sei verfehlt und der sühnende Charakter des Mahles ginge verloren, wenn man nur die Angehörigen und Freunde teilnehmen lasse. Die Kirche wollte die Opfermahlzeit als Mahl der Barmherzigkeit betrachten. Der Verteidiger und Ausleger des armenischen Brauchtums Krikor Datewatzi deutete das Totenmahl als ein Symbol der Liebe und Barmherzigkeit gegenüber den Armen. Welch hohen Wert die Kirche dem Opfer und dem Agapemahl im offiziellen Totenkult beimisst, belegt das strikte Verbot, welches die Synode von Schahabiwan über Personen verhängt, die ihre Toten mit übermäßiger Klage zu Grabe tragen: sie dürfen den Verstorbenen kein Opfer mehr darbringen.
Die Kirche kennt unterschiedliche Begräbnisriten für den Klerus (Priester, Bischof, Katholikos), für Mönche und für Laien (Männer wie Frauen). Seit dem ausgehenden 13. Jh. bezeugen die liturgischen Handschriften einen eigenen Ritus für das Begräbnis ungetaufter Kinder. Es ist aber nicht feststellbar, wann die speziellen Formeln dafür entstanden. Auf jeden Fall führte die armenische Kirche eine Differenzierung der Begräbnisfeier sehr früh ein, schon im 10. Jh. Mit den Armeniern gehen zeitlich die liturgischen Handschriften der West- und Ostsyrer zusammen. Diese bekennen sich bereits seit dem späten 9. Jh. zu unterschiedlichen Begräbnisriten für Mönche, Kleriker, Laien und Kinder. Jedenfalls geht die östliche Kirche in der Entfaltung der Begräbnisrituale der byzantinischen Kirche liturgisch voran. Diese entwickelte erst zu einem relativ späten Zeitpunkt ihre verschiedenen Begräbnisordnungen. Der Metropolit Simeon von Thessaloniki beschreibt eine für alle Verstorbenen gleichermaßen gültige Begräbnisfeier zu seiner Zeit. Bis zum 15. Jh. war eine einzige Formel für den Begräbnisgottesdienst in Gebrauch, in der die Gebete nach Bedarf dem Stande des Verstorbenen entsprechend angepasst wurden. Erst später wurden Riten für das Begräbnis ungetaufter Kinder, und im 15. und 16. Jh. für Priester und für den Bischof bekannt. Liturgisch gesehen knüpften die verschiedenen Begräbnisriten an eine Praxis an, die an der Wende zum 6. Jh. in der Kirche Antiochiens beobachtet wurde. Nach einer Beschreibung der Bestattungszeremonie von Dionysius Areopagita wurde der unterschiedliche kirchliche Stand von Laien und Priestern durch den Ort der Aufbahrung des Leichnams in der Kirche kenntlich gemacht. Der Leichnam eines Priesters wurde auf dem Altar vor dem eucharistischen Tisch aufgebahrt, der Leichnam eines Mönchs wie auch der eines Laien jedoch – außerhalb des Altarraumes. Aber der eigentliche Inhalt der Begräbniszeremonie blieb gleich. Seit dem Areopagiten ist in der armenischen Kirche eine Differenzierung des Begräbnisritus für den Klerus und für den Laien nachweisbar.
Die Formel für eine Mönchsbestattung hängt vom Laienritus ab. Direkte Zeugnisse darüber sind in der Vita des Katholikos Yeghiwartetzi erhalten, wo nur das Priester- und Laienbegräbnis von ihm neugefasst sind. Der Begräbnisritus für den Mönch ist in seiner inhaltlichen Struktur dem Laienbegräbnisritus ähnlich, der in seiner Basisstruktur den Grundtypus des Ritus darstellt. Beide haben eine gemeinsame Struktur, deren Elemente in einer geregelten Abfolge von Psalm, Schriftlesung, Fürbitte und Gebet bestehen. Die Gemeinsamkeit beider Riten wird in der Ordnung der Gedenkfeier am klarsten deutlich. Beide Riten haben die gleiche Ordnung. Der einzige markante Unterschied zwischen Mönchs- und Laienritus besteht darin, dass der Leichnam eines Mönches in der Kirche (nicht auf dem Altar) aufgebahrt wird, während der Leichnam eines Laien vor dem Kirchenportal aufgebahrt wird.
Im Gegensatz dazu hat die Begräbnisformel für den Klerus ihre eigene Entstehungsgeschichte. Der Begräbnisritus für den Klerus ist strukturell und inhaltlich am reichhaltigsten. Er unterscheidet sich vom Laienritus wesentlich durch die vervielfachte Anzahl und Länge seiner Schriftlesungen und Psalmen. Eine andere augenfällige Besonderheit ist der große Umfang von Lesungen aus dem Alten Testament.
Auch bestimmte Gebete und Supplikationen (Bittgänge) wurden eingeführt. Abgesehen von der reicheren Leseordnung liegt die Länge des Priesterritus in den feierlichen Zeremonien begründet, die am vor dem Altar aufgebahrten Leichnam vollzogen wird. Der Gottesdienst in der Kirche erreicht seinen Höhepunkt in der Salbung des Leichnams mit kostbarem Myronöl, im Friedenskuss und in der zeremoniellen Verabschiedung des Verstorbenen durch die Mitbrüder des Priesters von Kirche und von Welt, die die Brüder ex persona defuncti ausführen. Die Abschiedszeremonie ist reich an Symbolik. Begleitet von Psalmengesang und Gebet legt man den Toten nacheinander vor dem Kreuz, vor dem Bema, schließlich vor dem Altar nieder. Dort werden die Stirn und die Hände gesalbt. Der Salbung folgt das Salbungsgebet des Priesters und Psalm 22 (bzw. 23) Vers 5 „Du salbest mein Haupt mit Öl“. Nach dem Vollzug der heiligen Handlung verabschieden sich die Mitbrüder des Verstorbenen mit einem Kuss. Friedens- und Abschiedskuss versinnbildlichen die über den Tod hinaus bestehende Gemeinschaft von Lebenden und Toten in Christus. Im Unterschied zur heidnischen Abwehrhaltung ist der Verstorbene, der nach christlichem Glauben zur Gemeinschaft mit Christus auferweckt wird, rein und heilig. Ex persona defuncti handeln die Mitbrüder auch wenn sie mit dem Wahlfahrtspsalm 121 (bzw. 122) Vers 1 „Ich freute mich über die, die mir sagten: Lasset uns ziehen zum Hause des Herrn“ für den Toten den Abschiedsgruß an die Kirche singen. Der Abschiedshymnus zählt zum ältesten Hymnenbestand des armenischen Rituals. Seine Ähnlichkeit mit der syrischen Begräbnistradition ist auffällig. Im 6. Kapitel seines Werkes „Nomokanon“ zitiert Bar Hebraeus (1286) die gleiche Psalmperikope aus dem Begräbnisritus, die der Mitbruder statt dem verstorbenen Priester singt.
Die Abschiedszeremonie, begleitet von Friedenskuss und Totensalbung, hat ihren Ursprung in der christlichen Tradition. Den Toten mit Ingredienzien zu salben, gehörte im heidnischen antiken Totenkult zum festen Bestandteil der Totenfürsorge. Der Balsam diente in den heißen Ländern des Orients zugleich dem Zweck der Konservierung des Leichnams gegen die rasch fortschreitende Verwesung. Die Christen übernahmen den Brauch und führten ihn, auf die sakrale Ebene transzendiert, in liturgischer Form, fort.
Die Ostkirchen verankerten die Totensalbung grundlegend in ihrem Begräbnisritual. Die Zeremonie der Totensalbung wurzelt in einer Bestattungstradition, die seit den Kommentaren des Areopagiten zu den Mysterien der Kirche als fester Bestandteil des Begräbnisritus bezeugt ist. Die armenische Kirche, die in der Frage der Totensalbung im Begräbnisritus auf einer Tradition des Areopagiten als dem autoritativen Lehrer beruht, schreibt in ihren „Kanones“ die folgende Ordnung vor: „Und der Priester nimmt das heilige Myron und gießt es zuerst auf die Stirn, wie auch der heilige Dionysius von Athen, ein Schüler des heiligen Apostels Paulus, anordnet. Er erklärt nämlich der Reihe nach das Mysterium, welches man in solcher Ordnung des Christentums nicht mit heidnischen Greuel verderben soll, denn apostolisch ist dieser Kanon“.
Die Totensalbung, die anfangs noch jedem Verstorbenen ohne Unterschied gespendet wurde, stellt Areopagita in einen geistigen Zusammenhang mit der Taufsalbung. Die Taufsalbung ist sinnfälliges Symbol der Initiation in das christliche Leben und Übernahme der „heiligen Kämpfe“, die ein Christ fortan im Leben zu bestreiten hat. Gilt die Taufsalbung als Siegel der Befähigung zum Eintritt in den Kampf des Lebens, so bedeutet die Totensalbung die Vollendung des Lebenskampfes. Der Entschlafene hat seine geheiligten Kämpfe ausgerungen. Die Totensalbung besiegelt somit die Taufsalbung.
Für die Totensalbung schreibt die Begräbnisordnung der armenischen Kirche die Verwendung des Myrons vor, – der gleichen Substanz, mit der auch die Salbung im Taufritus vollzogen wird. Die syrische Kirche verwendet ebenfalls Myron als „Öl der Salbung“ für den Toten. Die materielle Gleichheit der Substanz bei der Salbung eines Verstorbenen und bei der myronhaltigen Balsamierung eines Täuflings stellt eine symbolisch unmittelbare, fast sakramentale Beziehung zwischen Totensalbung und Taufsalbung her. Anfang und Ende des christlichen Lebensweges fließen so zeichenhaft ineinander und kommen zum Abschluss.
Die einst auch an Laien vollzogene Totensalbung scheint nach einer Begräbnisordnung aus dem 10. Jh. außer Gebrauch gekommen zu sein und findet nun nur beim Klerus ihre Anwendung. Wenig später nach der armenischen Kirche hörte auch die syrische Kirche im 13. Jh. auf, die Totensalbung zu praktizieren.
Die Anwendung der Salbung hat die armenische Kirche von der antiochenisch-syrischen Kirche übernommen. Wann der Übergang zu datieren ist, bleibt unklar. Es ist nur anzunehmen, dass es schon früh geschah, so wie es auch die Begräbnisordnung des Areopagiten bezeugt.